Evangelisch in Forstenried

Evangelische in Fürstenried, Forstenried, Neuried:
Die "Andersgläubigen" waren schon vor 200 Jahren da!

50 Jahre ist die Andreas-Gemeinde alt. Aber über 200 Jahre ist es her, dass sich der erste Protestant in Forstenried niederließ. Es folgten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mehr und mehr evangelische Kolonisten vor allem aus der Pfalz, die die Entwicklung eines bis dahin vollkommen katholischen Dorfes mitprägten. Das freilich hat im Laufe der Generationen das evangelische Element mehr oder weniger "aufgesogen", mit dem Effekt, dass in der 1963 gegründeten evangelischen Gemeinde Nachfahren der frühesten evangelischen Zuwanderer kaum mehr vertreten sind. Evangelische in Forstenried - eine spannende Geschichte einer Konfession zwischen Anerkennung, Ausgrenzung und Vereinnahmung.

Die Chaussee von München her zieht eines Tages im Hochsommer des Jahres 1803 ein Ochsengespann in Forstenried ein, das Aufsehen bei den Einheimischen erregt. Der Mann stellt sich vor: Johann Hainer von Weyher, sein Eheweib Barbara, vier Kinder. Doch dieser Hainer spricht einen Dialekt, den ein Forstenrieder nicht ohne Weiteres versteht. Französische Wörter sind dabei. Und einen merkwürdigen Ausweis führt er mit sich, ausgestellt von einem "Urparlament" im "Departement Mont Tonnere". - Aber der Mann, laut seiner Papiere 35 Jahre alt, knapp einen Meter achtzig groß, schwarzbraune Haare und schwarzbraune Augen, weiß, was er will. Für 1.100 Gulden bar erwirbt er vom Ehepaar Quien den "Hager". Der Hager, damals ein Zwei-Achtel-Gütel mit 17 Tagwerk, ist, wenn man vom Alten Wirt den Weg nach Solln geht, das dritte Anwesen auf der linken Seiten (heute: Herterichstraße 168). Dem Johann Hainer ist der Zusatz im Kaufvertrag wichtig: "Mit allen Getreid und Heufand, es mag schon eingebracht oder noch im freyen stehen". Es ist Erntezeit.

Der Hainer und seine Familie werden den Einzug und das Zur-Ruhe-Kommen im neuen Zuhause herbeigesehnt haben. Sie waren drei, vier Wochen unterwegs und hatten sich in einem ersten Anlauf, sich im Bayerischen niederzulassen, in Unterschleißheim umgetan, freilich vergeblich. Jetzt also Forstenried!

Die Forstenrieder aber, eine alteingesessene Dorfgemeinschaft, haben erst einmal, so mutmaßen wir, die Luft angehalten und sich am Hinterkopf gekratzt. Ein von so weit her Zugezogener, das gabs seit undenkbaren Zeiten nicht. Von der Sprache dieses Menschen ganz zu schweigen. Die "Unbedenklichkeitsbescheinigung" über ein Vermögen von immerhin 4.000 Gulden ist datiert auf einen Tag, von dem man in Bayern noch nicht gehört hat: "den siebten Thermidor Eilften Jahreß der Franken Republique". (Das entspricht übrigens dem 25. Juli 1803). Ja, wo kommt der Mann denn nun her? Er kommt, wie sich herausstellt, aus der Pfalz (genauer: aus der Gegend um den Donnersberg), wo zwei Millionen Deutsche unter Napoleons Herrschaft geraten und damit französische Bürger geworden sind, wo die alte Welt, alle geistliche und weltliche Feudalherrschaft gründlich zusammengebrochen ist und wo man im Sinne der Französischen Revolution einen Jakobinerclub gegründet hat.

Vor allem aber: Johann Hainer ist ein "Andersgläubiger", kein Katholik wie hier alle es sind. Die Forstenrieder staunen: Johann Hainer beruft sich auf das erst seit 10. Januar 1803 geltende Religions-Toleranzedikt, das in Bayern die Konfessionen auf eine Stufe stellt, und gibt als seine Konfessionszugehörigkeit "reformiert" an.

Wir waren damals nicht dabei und müssen unsere geschichtliche Phantasie walten lassen. Aber die Szene "Johann Hainer kommt in Forstenried an" birgt alle Zutaten für ein soziokulturelles Dokudrama! Wir sind 1803 an einer geschichtlichen Zeitenwende, und mit der Ankunft eines Fremden in einem altbayerischen Dorf kommt die neue Zeit - und mit ihr eine andere Konfession - in einem traditionellen, ländlichen Milieu an. Man stelle sich vor: Seit dem bayerischen Religionsmandat 1522 war allein der Katholizismus die offizielle und gehütete Staatsreligion, der Protestantismus war verboten und wurde bekämpft. Erst unter dem aufgeklärten Regenten Max IV Joseph und seinem noch aufgeklärteren Minister Montgelas zeichnet sich - rasant in der Stadt, ganz gemächlich auf dem Land - der Umbruch zum modernen Staat ab. Auch zum religiös toleranten: Max IV Josef ist in konfessionsverschiedener Ehe verheiratet mit der evangelischen badischen Prinzessin Caroline, was schließlich zur Gründung der ersten protestantischen Gemeinde führt.

Aber wie gesagt: Das ist die Residenzstadt, wo es ein paar hundert Protestanten im Hofstaat der Prinzessin gibt und schließlich einen evangelischen Wein- und Pferdehändler, dem das Bürgerrecht widerstrebend, aber immerhin zuerkannt wird. Draußen in Forstenried aber, von München aus gesehen eine Rodungsinsel im dichten Wald im Süden, ist Johann Heiner weit und breit der erste sogenannte "Überrheiner". 1804 zählt man in Altbayern außerhalb der Residenzstadt gerade einmal 81 solcher evangelischer Kolonisten.

Wir wissen nicht, warum Johann Hainer kam - ein armer Wirtschaftsflüchtling war er mit Sicherheit nicht - aber wir wissen aus der Häusergeschichte Forstenrieds, dass ihm andere folgten: Im selben Jahr erwerben der Ackersmann Georg Wißmayr und seine Frau Barbara aus Mechtersheim im "französisch republikanischen" den "Kaltschmied" (Nr. 42 in der Forstenrieder Haus-Zählweise). 1805 kaufen "Johann Reiß von Herzenbichl aus dem Niederrheinischen Departement und Anna Maria dessen Eheweib" den "Schmidmelcher" (Haus Nr. 28., heute Herterich 171). 1808 kauft Theobald Dolch aus Dundenheim im Badischen den nebenan liegenden "Wagner" (Nr. 27, heute Herterich 173). Der Protestant Dolch, 38-jährig, heiratet bald darauf die Hofbesitzerstochter Ursula Adam aus Feldkirchen. Feldkirchen östlich von München ist eine frühe evangelische Enklave. Der Vater der Braut ist dort "Vorsteher" der Protestanten.

1809 werden in Forstenried 174 (wohl erwerbstätige) Einwohner gezählt, und zwar 170 Katholiken und 4 Reformierte. Über die Jahre hinweg werden es mehr und mehr. Mancher wie der Hainer ziehen bald weiter, verkaufen aber an "ihresgleichen". Ansässig sind schließlich einige große protestantische Familien: Derzbach, Adam, Strubel, Krug, Huggenberger und andere, die alle aus der Rheinpfalz, aus Würrtemberg und Baden, aus Straßburg oder gar der calvinistischen Schweiz eingewandert sind. Sie brachten ihr Weltbild, ein neues Denken und auch neue Methoden in der Landwirtschaft mit, etwa den Rübenanbau oder das silageähnliche Einlagern von Rüben über den Winter, was man in Forstenried nicht kannte. Vor allem die Derzbachs, die schließlich den Feichtbauer (dann auf "Derzbach-Hof" umbenannt) gleich gegenüber der Kirche übernehmen, und die Adams, die in den Kernbauerhof im Oberdorf ziehen gleich neben dem Gasthof Post, bestimmen und prägen als "Großbauern" das dörfliche Leben entscheidend mit. Sie sitzen am Stammtisch und im Gemeinderat, sind Mitbegründer der Feuerwehr. Beim Adam steht das erste und lange Zeit einzige Klavier im Dorf.

Das ist die Geschichte der Integration. Doch es gibt auch eine andere Seite der Medaille: An protestantischen Feiertagen haben die katholischen Bauern möglichst nahe am "protestantischen" Derzbachhof geodelt. Umgekehrt hat der Derzbach-Bauer provokativ das Heu gewendet, wenn für die anderen das unbedingte sonntägliche Ruhegebot galt. Und wenn der Forstenrieder katholische Bub mit seinem evangelischen Freund zu einer "evangelischen Weihnachtsfeier" mitging und der Hochwürden hat's erfahren, dann hat er dem katholischen Bub eine gelangt, dass er nie mehr zu den Evangelischen ging. - Das klingt lustig und harmlos. Aber der ernste Hintergrund konfessioneller Streitigkeiten war, dass es, nach einer Phase der religiösen Toleranz anfangs des 19. Jahrhunderts, unter König Ludwig I zur Gegenreformation kam. Mit drastischen Folgen für Protestanten, die "in der Diaspora" wie in Forstenried lebten: Bei Mischehen mussten sich die Eheleute schriftlich verpflichten, die Kinder katholisch zu erziehen. Und konfessionelle Mischehen waren natürlich bei einem vergleichsweise integrationswilligen Völkchen wie den Pfälzer Kolonisten irgendwann im Laufe der Generationen fast schon unvermeidlich. Wenn man in Zahlen denkt: Eine evangelische Bäuerin in Forstenried setzte sieben Kinder in die Welt, die alle katholisch wurden.

Eine Gemeinde, in der die evangelischen "zusammengehütet" wurden, gab es nicht. Nur einen gelegentlich vorbeischauenden Reiseprediger, den weiten Weg zur Matthäuskirche in München und Bibelstunden beim Bauern Adam im Kernbauerhof (mit Klavier!) und beim Bauern Schneck. 1918 war Schluss auch mit dem Reisepredigen: Forstenried gehörte, kirchengemeindlich, nun zu Solln, was den nun alteingesessenen Forstenrieder Protestanten gar nicht behagte. In Solln stand seit 1922 eine Notkirche.

1939 zählte man in Forstenried 1800 katholische und immerhin 200 evangelische Einwohner. Im Schulhaus von Forstenried durfte sich kurzzeitig zweimal in der Woche Gemeindeleben entfalten, was aber bereits 1941 vom Stadtrat München verboten wurde. Nach dem Krieg gingen die Evangelischen in die "Einkehr" am Maxhof zum Gottesdienst. Als sich schließlich, 1958, ein Kirchbauverein bildete, dachten die, die die Gemeinde "planten", bereits in großen Räumen, vom Kreuzhof bis Neuried. Die Großstadtpfarrei trat an die Stelle der evangelischen Diaspora im Dorf, die ihre eigene Geschichte von der Säkularisation bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hatte.

Autor: Lutz Taubert


Quellen:

  • Ludwig Turtur, Anna Lore Bühler, Geschichte des protestantischen Dekanats und Pfarramts München 1799-1852.
  • Georg Wagner, Häuserbuch Forstenried (auszugsweise veröffentlicht in Forstenried, von Gertrud Thoma)
  • Hans Bachsteffel, Heimat Forstenried. Erinnerungen an ein Bauerndorf.